Geschichten

Colenius Tagebuch I

Taucht ein in die Erinnerungen und der Welt eines einfachen Bauern, der durch eine Verknüpfung von Zufällen zur falschen Zeit am falschen Ort war und nun fortan ein ruheloser Wanderer zwischen den Zeiten und Orten ist. In den vier Bänden wird viel Wissen über die Völker Truuls, der großen Katastrophe, Agador von Siebenheim und dem Schwanengesang am Ende aller Zeit vermittelt. Momentan ist nur der erste Band entdeckt worden.

Über die Höfe der Feen

Die Anderswelt, eine seltsame Welt, die im Zwielicht verborgen liegt und ihre eigenen Gesetze hat. Viele neigen dazu, diese mit der den Magiern vertrauten astralen Ebene zu verwechseln, oder gar der Geisterebene, doch nichts könnte falscher sein. Die Anderswelt, so wird es im Lied von Verluum besungen, entstand zur gleichen Zeit wie die erste Schöpfung, jedoch losgelöst und unbeeinflusst von dieser. An diesem mystischen Ort kann selbst der Blick der Götter nicht vordringen. Sie ist die Heimat alter, herrlicher Wesen, die so machtvoll sind, dass sich über die Jahrtausende unzählige Mythen und Legenden, Wahrheiten und Lügen um sie ranken – die Feen. Diese Geschöpfe, dem Zwielicht entsprungen, sind die prachtvollen Herrscher über unzählige Bewohner der Anderswelt. Einige davon existieren nur in der Anderswelt, andere Schlagen ihre Wurzeln in beide Welten wie zum Beispiel alte Bäume oder Dryaden.

Meine erste Begegnung mit einer Fee werde ich niemals vergessen. Es war im Morgengrauen, nach einer langen und warmen Sommernacht. Ich hatte mich in der Taverne ordentlich voll laufen lassen und wankte dem anbrechenden Tag folgend nach Hause. Am Waldrand hörte ich ein seltsames Rascheln im Unterholz. Ich schaute mich um, doch konnte ich nichts außer einer Schnecke, die mich mit einer Mischung aus Faszination und Todesangst beäugte, entdecken. Nachdem ich schon angehalten hatte, beschloss ich die Gunst der Stunde zu nutzen, um mich zu erleichtern und der Schnecke zu zeigen, wo der Hammer hängt.

„Wenn Du das tust, ist dein Leben verwirkt!“ Tönte es glockenhell in meinen Ohren. Ich schaute verdutzt auf einen schimmernden Bereich im Unterholz vor mir aus dem sich nach und nach die Konturen eines seltsamen Wesens herausschälten. Das Wesen war einen Kopf kleiner als ich und gehüllt in edlen pfirsichfarbenen Gewändern. In ihren Haaren tanzten kleine Lichter und ihre Ohren waren lang und spitz. Um ihre Taille wickelten sich zwei Flügel die wie ein Mieder anmuteten. Sie schaute mich mit diesen durchdringenden Augen an und ich hatte das Gefühl als ob sich ihr Blick tief in meine Seele hineinbohren würde.

Colenius! Es ist an der Zeit für dich aufzuwachen und wieder klar zu sehen“, sagte das Wesen und mit einem Mal war ich wach und nüchtern. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte und so verbeugte ich mich dümmlich vor dem Wesen, das mir so unbeschreiblich überlegen zu sein schien. Eine ganze Weile verweilte ich in dieser Position und dachte über meine Möglichkeiten nach. Sollte ich fliehen? Sollte ich um Hilfe schreien? Keiner würde mich so abseits der Wege finden und zu dieser Tageszeit waren nur die Trunkenen und Hilflosen wach. „Bist du ein Trottel, Colenius?“

Stille! Während ich darüber nachdachte, was das Wesen gesagt hatte, fühlte ich mich langsam wirklich wie ein unbeschreiblicher Trottel. Um nicht noch dämlicher zu wirken, als ich ohnehin zu sein schien, antwortete ich „Nein, ich hoffe nicht – Moment mal! Woher kennst du meinen Namen?“ Die Worte kamen mir so schnell über die Lippen, dass ich gar keine Zeit hatte darüber nachzudenken. Hätte ich eine so imposante Erscheinung nicht mit mehr Höflichkeit behandeln sollen? Würde sie mir mein bauernhaftes „Du“ übel nehmen. Während ich darüber nachdachte, begriff ich einige Dinge die mir nur unterbewusst aufgefallen waren. Das Wesen vor mir war offenbar weiblich, ihre Stimme und ihr Erscheinungsbild sprachen eindeutig dafür. Sie war aber keine Elfe, solche hatte ich schon früher gesehen und dieses Wesen entsprach so gar nicht dem was mir in den Sinn kommen würde wenn ich an Elfen dachte. Ich war ordentlich verwirrt und musste mich nach wie vor dringend erleichtern, was mir das Denken nicht unbedingt erleichterte. Ich schaute auf das Wesen und wollte gerade etwas zu meiner Entschuldigung sagen als das Wesen strauchelte, die Augen schmerzverzerrt zusammenkniff und in meine Arme fiel. Bewusstlos lag sie da und ich bemerkte nur wie eine warme Flüssigkeit meinen Unterarm entlanglief und von meinen Fingerspitzen auf den Boden tropfte.

Es sollte sieben Tage dauern, bis das Wesen wieder erwachte. Ich hatte sie in meine kleine Holzhütte getragen und zunächst niemandem etwas von ihr erzählt. Sie hatte eine klaffende Wunde, wie von großen Krallen gerissen am Bauch. Zwar konnte ich die Wunde mit meinen bescheidenen Möglichkeiten und Mitteln behandelt, doch wollte sich das Fleisch nicht schließen. Am dritten Tag begann das Wesen hohes Fieber zu bekommen und ich musste mir eingestehen, dass ich mit meinem Wissen am Ende war. Deshalb beschloss ich Girna, eine alte Kräuterfrau aus der nächstgelegenen Siedlung um Hilfe zu bitten. Ich versorgte am Morgen noch die Wunde der Fremden und machte mich dann schnellen Schrittes auf den Weg. Girna zögerte, nachdem ich ihr alles erzählt hatte, keinen Moment und begleitete mich, nachdem sie allerlei Mittel einpackte, zu meiner Hütte.

Zu Hause angekommen, fanden wir das Wesen genauso vor wie zurückgelassen. Silbrig glänzende Tropfen überzogen ihre Haut und die Luft in meiner Hütte roch süßlich, übel und verrottend. Girna jedoch legte eine Reaktion an den Tag, die ich nicht erwartet hatte. Sie betrat die Hütte und ich konnte nicht übersehen, dass sich ihre Augen ungläubig beim Anblick des Wesens weiteten. Sie ging behutsam auf das Wesen zu und kniete nieder, die Stirn auf dem Boden aufliegend, sagte sie: „Ich grüße euch erhabene Herrin des Zwielichts. Als Wächterin dieses Landes werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um euch zu retten. Selbst wenn es das Ende meines eigenen Lebens bedeuten sollte.

Ich muss gestehen, dass ich die Situation mehr als befremdlich empfand. Da lag ein Wesen auf meinem Bett und eine alte Kräuterfrau, die irgendetwas davon schwafelte, eine Wächterin dieses Landes zu sein kniete vor ihr den Kopf auf dem Boden, von dem ich mir gewünscht hätte, ich hätte ihn noch einmal gefegt, bevor ich aufgebrochen war. Ich konnte nichts Wertvolles beitragen, also setzte ich mich auf den alten knarzenden Stuhl und beglotzte stumm das Treiben in meinen bisher so beschaulichen vier Wänden.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis etwas geschah. Girna saß mehrere Stunden vor dem Wesen und machte … absolut gar nichts. Als meine Augenlider langsam schwer wurden und ich bemerkte, dass die Sonne langsam unterging, stand sie auf und packte allerlei Zeug aus der schweren Truhe, die ich schleppen musste. Da waren Fläschchen, Kräuter, Kristalle und Steine. Seltsame Beutelchen und kleine Dolche aus Holz sowie Zangen, Nadeln und Fäden. Allesamt aus Holz!

Girna bat mich darum, ein Feuer im Ofen zu entfachen und Wasser in einen großen Kessel zum Kochen zu bringen. Ich tat wie mir befohlen, während sie anfing, seltsame Muster auf den Boden aufzumalen. Sie benutzte dazu das weiße Pulver eines seltsamen, weichen Steines, welchen sie zuvor gemahlen hatte. Das Wasser kochte und ich fragte, was ich tun sollte „Bring mir ein paar Laken, zerschneide sie und leg sie in das kochende Wasser“, ich glotzte dümmlich und sagte, „ich habe nur das Laken auf dem Bett!“ Girna erwiderte meinen Blick mit einer Mischung aus Belustigung und Ungläubigkeit. „Du lebst wohl alleine hier oder? Ich nahm an du bist verheiratet. Bist reichlich alt für einen Junggesellen“ ich konnte darauf nichts erwidern und bemühte mich lediglich meine Kinnlade wieder zu schließen. „Zieh dein Hemd aus und zerreiße es in ein paar große Fetzen“ ich wollte protestieren aber die verrückte Alte keifte mich sofort an „Tu wie dir geheißen wurde Mann und verschwende nicht meine Zeit mit dummen Fragen“. Widerwillig zog ich mein Hemd aus und fing an es zu zerreißen. Die Fetzen schmiss ich wie mir befohlen, ja, das musste man sich mal auf der Zunge zergehen lassen, es wurde mir in meinem Haus, unter meinem Dach befohlen, in das sprudelnd kochende Wasser des schwarzen Kessels.

„Nun mach, dass du hier rauskommst und kehre nicht zurück in die Hütte, bis ich fertig bin. Hast Du gehört? Du kommst erst zurück, wenn Du dazu aufgefordert wirst!“
 
Als ich die Hütte verließ und die knarzende Holztür hinter mich schloss war ich betrübt. Es war ein seltsames Gefühl das mich ergriff. Ein Hauch von Schicksal vernebelte meine Gedanken und drückte auf mein Herz.
 
Es vergingen neun Stunden. Zunächst war ich wach geblieben und mich unter das Fenster gesetzt. Girna begann irgendwann zu singen. Seltsame Worte, die eine Melodie ummantelten, die fremd und kraftvoll war. Nach zwei oder drei Stunden wachte ich auf. Ein Knall hatte mich aus meinen konfusen Träumen geweckt. Noch ein Knall, diesmal ein dumpfer, gefolgt von einem Seufzer und einem kraftvollen Einatmen, so als ob man nach zu langer Zeit unter Wasser endlich wieder an die Oberfläche kommt und dann Stille.
 
„Komm rein Colenius, ich weiß, dass Du mich hören kannst“, erklang es glockenhell aus meiner Hütte. Ich erhob mich vom Boden und öffnete vorsichtig die knarzende Tür.
 
Das Erste, was mir auffiel, war die prachtvolle, ehrfurchtgebietende Präsenz vor mir. Das Wesen war wunderschön und strahlte erhaben von innen heraus. Ihr Blick war durchbohrend und kaum auszuhalten. Ich hatte das Gefühl, als schaute sie mir bis auf den Grund meiner Seele und noch weiter. Die Luft um sie herum schien zu flirren und ich konnte leises, helles Glockengeläut in meinen Ohren klingen hören. Ich weiß nicht, wie lange ich auf sie starrte, mit offenem Mund und fragendem Blick. Minuten? Eine Stunde vielleicht. Die Zeit schien in ihrer Gegenwart keine Bedeutung zu haben. Was mir damals noch seltsam vorkam, sollte sich viele Jahre später erst aufklären.
 
Dann bemerkte ich Girna. Sie lag reglos auf dem Boden. Aus ihren Augen zog sich ein dünnes Rinnsal Blut über ihr Gesicht und bildete eine kleine Lake auf dem verdreckten Boden, der übersät war mit Kräutern, Ingredienzien, Staub und dem Dreck der letzten Wochen. Ich verspürte Bedauern und Trauer. Ich wusste, dass es wohl ihre eigene Entscheidung gewesen war, die zu ihrem Tod geführt hatte, doch war ich derjenige, der sie auf diesem Weg geführt hatte.
„Ihr Opfer wird nicht vergessen werden!“ Sprach das Wesen. „Bring sie nach draußen Colenius und leg sie unter die Eiche die hinter deiner Hütte wächst“.
 
Ich tat wie mir aufgetragen. Hob den schweren Laib des alten Weibes vom Boden auf und trug sie mit Mühe nach draußen. Das Wesen folgte mir. Als wir an der Eiche angekommen waren und ich Girna ablegte trat das Wesen vor und hob eine Hand in die Höhe. Die Blätter der Eiche raschelten obwohl kein Wind zu spüren war und feiner, glitzernder Staub fiel von ihnen herab, bedeckte den leblosen Körper und wickelte ihn in unzählige kleine Lichter. Ein wildes Pulsieren folgte, mit einem Mal ein Funkenschlag und Girna war verschwunden.
 
„Ich bin Arani, Tochter von Ara und Enkelin von Aj. Ich bin die Königin des Herbsthofes und ich bin vor zwei eurer Tage gestorben.“
Ich dachte über das Gesagte nach und begriff es nicht. Das Wesen vor mir nannte sich Arani und war eine Königin und sie war tot. Wie konnte das möglich sein? Sie stand doch hier vor mir, wirkte wie das blühende Leben, sprach, bewegte sich und war alles andere als tot.
 
„Versuche nicht etwas zu begreifen, dass dein Verstand nicht erfassen kann Colenius, nimm es als eine Wahrheit an, die über dein Verständnis hinausgeht“ sprach das Wesen „Mein Volk ist uralt und nicht an die Gesetze der Zeit gebunden wie das deine.“ Ein Reh sprang durch das Unterholz und ich hörte Stimmen aus der Ferne zu uns dringen.
 
„Vielleicht sollten wir ins Haus gehen“ sagte ich unsicher. Arani nickte und als sich die Tür hinter uns schloss hatte mich das Schicksal auf einen Pfad geführt den ich nicht mehr verlassen sollte.
 
In den kommenden Wochen und Monaten blieb Arani bei mir, ohne den Grund dafür zu nennen. War sie am Anfang noch sehr distanziert und kühl gewesen, so taute sie in der verstrichenen Zeit kaum merklich ab. Andauernd tadelte sie mich für mein Verhalten, mein Benehmen und meine Lebensweise. Sie saß stundenlang vor dem Fenster und starrte nach draußen. Auf meine Frage hin, warum sie nicht rausgehe, antwortete sie nicht und machte nur eine Handbewegung, die mich zum Schweigen brachte. Bei den Göttern, wie ich diese Handbewegung hasste.
 
Zunächst fühlte ich mich wie ein Gefangener in meinem eigenen Haus. Ich musste auf jeden meiner Schritte achten, musste festgelegte Aufgaben erfüllen und neue Dinge tun, deren Sinn sich mir nicht offenbarte. Arani verlangte, dass ich jeden Morgen frisches Wasser aus einer entfernten Quelle holen sollte, dieses musste ich durch dichte Baumwolle vierfach gefaltet filtern und in eine Kristallschale auffangen. In dieses Wasser mussten frische Birkenblätter, Kirschkernsaft und Drachenherzschalen eingelegt werden. Einen ganzen Monat lang musste ich jeden Tag den so gewonnenen Sud immer wieder potenzieren und danach destillieren, bis eine dickflüssige Paste entstanden war. Dann schickte sie mich los, um Steine zu suchen. Sie nannte den Stein Alamit, wie sich später herausstellen sollte, handelte es sich hierbei um ein Mineral, dessen Hauptbestandteil Talk war. Ich hatte welche in der Nähe der Sümpfe gefunden und wollte mich ehrlich gesagt nicht fragen, wie sie entstanden waren. Den Alamit musste ich zu feinem Staub mahlen und dem Sud beimischen. Arani murmelte für Wochen jeden Abend und jeden Morgen seltsame Worte darüber und malte unsichtbare Zeichen mit einer Nadel aus Birkenholz in die Oberfläche des Sudes, der langsam die Form eines Breies angenommen hatte. Ich nehme an, dass etwa zwei Monde vergangen waren, da verlangte die Fee von mir Blut. Ich musste wohl recht verdutzt dreingeblickt haben. Sie erklärte mir, dass sie ein Versprechen einlösen musste, welches sie in der Zukunft geben wird. Ehrlich gesagt verstand ich nicht, was sie damit meinte und wollte mir auch keine tiefgründigen Gedanken machen, da ich schon recht genervt war.
 
Ich meine, man muss sich das mal vorstellen. Ich hatte ein recht beschauliches Leben. Hatte meine kleine Hütte. Mein Alltagswerk und führte ein gemütliches Leben zwischen Arbeit, Taverne und Bett. Ich konnte mit dem Holzfällen genug Kupfer verdienen, um ein komfortables Leben zu führen. Natürlich war mein Leben nicht so prunkvoll wie das der hohen Herren von Weitblick oder gar dem großen Seher und seiner Familie, die Truul bereits seit mehreren Jahrhunderten regierten, aber es war überschaubar. Meine Sicherheit, die Gewissheit des nächsten Tages mit seinen Herausforderungen und Aufgaben war immer gegenwärtig gewesen. Mit einem Mal hatte sich das alles verändert. Und warum? Weil ich fast einer Fee auf den Kopf gepisst hatte; weil ich zur falschen Zeit am falschen Gebüsch gestanden hatte. Aber aus mir unverständlichen Gründen tat ich, wie mir geheißen wurde. Wie ein braver Diener erfüllte ich alle Pflichten und Aufgaben und fand auch noch genug Zeit um für eine unnatürliche Ordnung in meiner Hütte zu sorgen, denn ihre Majestät wollte sich nicht die Füße an meinem Boden schmutzig machen.
 
Ich schnitt mir in die Handfläche und träufelte etwas Blut in den Brei. Arani rührte es schnell mit der Birkenholznadel unter und wiederholte immer wieder die Worte „Hidja Daryp Solf Colenius“. Das Symbol, welches sie dabei in den Brei zeichnete, schien sich unnatürlich zu verfestigen und für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich das Gefühl, dass es seltsam schimmerte. Arani gebot mir, ein Feuer im Herd zu entfachen und Rindenstücke von Eiche, Kiefer und Esche zu holen. Nachdem das Feuer hell im Ofen loderte und die Rindenstücke auf dem Tisch lagen, begann sie mit geschickten Fingern eine Form daraus zu flechten. Ich erinnere mich daran, dass sie aus der Eschenrinde streifen heraustrennte und sie zu Fäden verformte, je sieben Knoten machte sie nach jedem Binden und nannte immer meinen Namen zum Schluss. In die dadurch entstandene Form füllte sie den zähen Brei. Die Oberseite der Form vernähte sie mit der Birkenholznadel und einer Strähne ihres eigenen Haares. Zum Schluss schmiss sie die Form in das Feuer und betrachtete mich durchdringend. „Du wirst hierbleiben und das Feuer 3 Tage und 2 Nächte am Lodern halten. Du wirst nicht schlafen und Deine Augen nur abwenden, wenn Du frisches Holz nachlegst. Das ist sehr wichtig Colenius, halte durch und befolge meine Anweisungen. Der Lohn wird sich Dir mit der Zeit erschließen.“ Mit den letzten Worten lächelte sie mich an und verließ meine Hütte durch die Tür. Als diese mit einem „klack“ wieder zuging, hatte ich das Gefühl, das ich Arani niemals wiedersehen werde. Wie sich herausstellte, hatte ich mich geirrt.
Der erste Tag war erduldbar. Die Stille und Monotonie der Zeit, die nur zäh dahinfließt, hatte ich bis zu diesem Moment nie bemerkt. Während der ersten Nacht wäre ich beinahe eingeschlafen, hätte mich nicht ein lautes klopfen an der Tür aus meinen aufziehenden Träumen gezogen. Ich rief „Wer da?“ Bekam aber keine Antwort. Ich war mir nicht einmal sicher ob ich es mir eingebildet hatte oder nicht. Die Flammen züngelten und tanzten umher wie die gierigen Tentakel eines roten Tintenfisches. Ab und an bildete ich mir ein sie wollten mir Geschichten erzählen aus fernen Ländern in denen ein Volk von roten Flammenkriegern gegen eine Invasion von Rauchgestalten ankämpften. An den folgenden Tagen und der Nacht habe ich keine Erinnerungen mehr. Ich weiß nur, dass ich beim Sonnenuntergang des dritten Tages näher am Tod als am Leben war. All meine Kraft schien aus meinem Körper geflossen zu sein. Ich hatte Schmerzen und mein Kopf pulsierte wie von einem Derwisch malträtiert. Als der letzte Sonnenstrahl Calads, der durch mein Fenster drang dem Mantel Nuirs wich, platzte die Form im Feuer mit einem Knall auf und ich verlor das Bewusstsein.
 
Ich weiß nicht, wie lange ich schlafend auf dem Boden vor dem Ofen gelegen hatte. Als ich erwachte, war es in meiner Hütte eiskalt. Ich war durstig und hungrig. Ich trank ein paar Kellen Wasser und kaute gierig auf einen trockenen Laib Brot herum, erleichterte mich und schaute dann in den Ofen. In der kalten Asche fand ich einen runden Stein, dessen Oberfläche mit eben jenem Symbol verziert war, welches Arani Tage zuvor in den Brei gezeichnet hatte. Der Stein fühlte sich samtig weich an und war irgendwie warm. Eine Wärme, die konstant blieb und meinen starren Fingern schmeichelte. Wie hypnotisiert glotzte ich der Ratte, die auf die Schlange blickt gleich und wusste nicht, was ich tun sollte. Arani hatte mir nichts gesagt, nicht wozu dieser Stein gedacht ist, noch wie ich weiter verfahren soll. Ich drehte den Stein in meiner Hand und bewunderte die perfekte, glatte Oberfläche. Dann, einer Eingebung folgend, sagte ich ein Wort, welches Arani immer wieder gesagt hatte, während sie den Sud besprach „Hespary“. Der Stein leuchtete in meiner Hand auf und für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass mein Blut zu kochen begann, bevor die Farben der Welt verblassten und ich aus meiner Welt und meinem Körper gezogen wurde.
 
Ich wirbelte unkontrolliert durch schwarzen Äther, sah Welten und Zeitalter an mir vorüberziehen, fiel, sank und ertrank in einem Ozean der Leere. Als mein Körper hart auf den dunkelblauen Granit aufprallte, verspürte ich keinen Schmerz. Mein Kopf drehte sich noch immer und in meiner Hand hielt ich den Stein, der sich noch immer warm und behütend anfühlte. Ich blickte mich um und erkannte die Konturen eines gewaltigen Raumes. Die Säulen, hoch wie ein Gebirge und massiver als alles, was ich mir je hätte vorstellen können, stützten einen Nachthimmel, in dem die Sterne glitzerten wie kleine Augen, die mich von oben herab beobachteten.

Schritte in der Dunkelheit waren zu hören und ein kaum sichtbarer Schatten kündigte die Ankunft von etwas an. Mein Kopf war nahe dem Bersten, ich hatte das Gefühl, dass meine Anwesenheit an diesem Ort nicht richtig war und meine ganze Existenz damit kämpfte, das erlebte zu verkraften und zu begreifen, ohne augenblicklich zu verzweifeln und sich dadurch selbst auszulöschen. Der Schatten bleib stehen und schrumpfte allmählich in sich zusammen und hinter der Säule, die mir an nächsten war, erschien ein kleiner Junge. Seine durchdringenden Augen eines Blau, eines Golden waren das erste, was mir auffiel. Der Junge, kaum acht Sommer alt, beäugte mich mit einer Mischung aus Erstaunen und Skepsis und lächelte verrückt und schief.

„Das ist unerwartet“ seine Stimme, kindlich und hell, schmerzte mir in den Ohren wie ein Klingensturm und ich fürchtete, der Druck in meinem Kopf würde mir die Augen aus ihren Höhlen drücken. „Du nennst dich selbst Colenius, aber das ist nicht dein wahrer Name“, diese Stimme, die grausame Wahrheit, die sie aussprach, war überwältigend und furchterregend zugleich. Ich fühlte mich nackt aller Sicherheit beraubt und verletzlich wie nie zuvor in meinem Leben. Bilder zogen vor meinen Augen dahin, ich sah das Meer und das Boot, welches mich meiner Kindheit beraubt hatte, meinen Vater, der am Galgen hing und meine Mutter, die mit einem gezückten Messer auf mich losgegangen war, den irren Blick in ihren Augen, den Wald und die Schlucht, ich stürzte, erwachte und fand mich bei einer alten Frau wieder, die mich sanft anlächelte, ihren letzten Atemzug viele Jahre später und das letzte Wort, welches ihr über die Lippen kam – Colenius.

„Möchtest Du spielen?“
 
Ich hatte mit allem gerechnet aber nicht damit. Ich glotzte den Jüngling dümmlich an und als ich etwas erwidern wollte stammelte ich nur wirres Zeug vor mich hin. Es vergingen einige Momente bis ich mich gesammelt hatte. Mein Kopf pochte noch immer und tanzte zu einem Takt der viel zu schnell zu sein schien.
 
„Spielen?“ Erwiderte ich.
 
Das Kind lächelte erneut sein schiefes Lächeln und auf einmal traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag. Vor mir stand der leibhaftige Lavok. Einer der großen zehn! Der Gott der Träume und der Zeit. Ich erstarrte und verstummte augenblicklich. Meine Atmung war flach und gehetzt. Bei allen Göttern, ich wusste nicht einmal genau ob ich wirklich atmete.
 
Lavok sah mich noch immer mit diesen durchdringenden Augen an. Seine Mine war starr, teilnahmslos und für mich nicht zu deuten. Die Momente vergingen wie im Flug und ich stand nur da und glotzte dem Gott der Träume paralysiert an.
 
„Langsam verliere ich mein Interesse an dir Colenius“ seine Worte, Messerstichen gleich trafen mich und ich versuchte mich zu sammeln „und wenn ich mein Interesse verloren habe, komme ich zum Schluss, dass es keinen Sinn macht, deine Anwesenheit in meinen Hallen länger zu dulden!“
 
Ich räusperte mich: „Natürlich, erhabener Lavok! Wenn es dein Wunsch ist – lass uns spielen“. Die Worte verließen meine Lippen so gestelzt, dass ich fürchtete sie würden noch unnatürlicher für den Gott klingen als sie es in meinen eigenen Ohren taten.
„Sehr schön, ein Spiel!“ Die Stimme des Kindgottes klang erheitert und freudig. Ich begann mich ein bisschen zu entspannen und hatte langsam das Gefühl wieder die Situation überblicken zu können. „Natürlich müssen wir einen Wetteinsatz bestimmen, so wie es sich für jedes gute Spiel gehört!“ Mit einem Mal war meine Stimmung wieder auf einen Nullpunkt gesunken, ich begann zu schwitzen und atmete flacher.
 
„Großer Herr über die Träume, was könnte ich haben, dass für einen erhabenen Gott wie euch von Interesse sein könnte?“ Stotterte ich hervor und überlegte gleichzeitig ob es tatsächlich etwas geben könnte. „Oh, da wüsste ich schon etwas!“, die Mine des Kindes wurde fester und seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Ich möchte die Feenquelle welche sich in deiner linken Hand hinter deinem Rücken befindet“.
 
„Feenquelle?“ Fragte ich verdutzt und aufrichtig zugleich. In meiner linken Hand die ich am Rücken hielt befand sich tatsächlich etwas – der glatte, warme Stein den ich aus der Asche in meinem Ofen gefunden hatte. Feenquelle? Was sollte das bedeuten? „Du armer Narr“, Lavoks Worte klangen amüsiert „Du hast keinen blassen Schimmer, was du da in den Händen hältst. Nun denn, ich habe gewählt, nun ist es an dir etwas auszuwählen für den unwahrscheinlichen Fall deines Sieges“.
 
„Ich möchte eigentlich nur wieder zurück erhabener Gott.“ Die Worte kamen so schnell über meine Lippen, dass es unbestreitbar meinen größten Wunsch darstellte. Ich wollte hier raus, wieder ein normales, beschauliches Leben führen.
 
„Gut“ sagte Lavok „Das Spiel das wir spielen nennt sich An welche Zahl denke ich.“ Er kicherte, „Du musst mir die Zahl nennen, liegst Du falsch gewinne ich, liegst Du richtig gewinnst Du!“ Ich musste eine Zahl nennen. Mir waren Glücksspiele bekannt, verbrachte ich doch mehr als genug Zeit in der Taverne und ehrlich gesagt hatte ich auch ein Händchen dafür, sie zu meinen Gunsten zu beeinflussen, aber dieses Spiel war einfach nur dämlich. Wie konnte ich mir sicher sein, dass er mich nicht betrügen würde. Wer kann schon in den Kopf eines Gottes schauen und sagen, ob dieser betrogen hat oder nicht. Ich musste mein Schicksal annehmen. Lavok stand als Jüngling vor mir, aber ich kannte die Geschichten nur allzu gut. Er war kein wohlwollender und gutmütiger Gott, war weder für seine Fürsorge noch für seine Geduld bekannt. Die grausamen Taten der Vergangenheit sprachen schließlich für sich. Ich nannte die Zahl „Eins“. Es war letztendlich gleich, welche Zahl ich wählen würde.
 
„Falsch!“ Gackerte er voller Schadenfreude und Hohn. „Ich habe an die Zahl „Zwei“ gedacht Colenius“. Er lachte drauf los und meine Hand schnellte unwillkürlich vor, öffnete sich und der Stein schwebte wie von Geisterhand geführt zum Gott der Träume.
 
„Nun bist Du schutzlos Colenius, in meinen Hallen wirbelt die Zeit umher wie ein Sturm, ein machtvoller Malstrom der alles verzehrt und verschlingt und er wird Dich bald erfasst haben, wird dich wandeln und letztendlich auslöschen bevor du es bemerkst“. Lavok drehte sich um und machte sich auf zu gehen da schoss es mir unvermittelt durch den Kopf. „Revanche“ sagte ich. „Was?“ Entgegnete mir der Gott verdutzt. „Ich verlange Revanche! Es ist das Recht des Unterlegenen eine Revanche einzufordern wenn der Einsatz hoch genug ist. Das sind doch deine Regeln oder?“ In Lavoks Blick erschien zum ersten Mal so etwas wie Misstrauen. Er hatte offenbar nicht damit gerechnet.
 
„Nun gut, die Revanche steht dir zu. Ich fordere von Dir den Einsatz deiner Lebensreihe. Jeder Mensch der dazu geführt hat, dass du nun vor mir stehst, all deine Ahnen die waren, sind und sein werden sollen mir gehören. Ich werde sie alle auslöschen und alle Erinnerungen an sie in allen Winden verteilen auf dass sich niemals jemand an sie erinnert während sie dazu verdammt sein werden auf alle Ewigkeit ein Dasein zwischen Sein und Nichts zu fristen.“ Die Grausamkeit seiner Worte war beängstigend und für einen kurzen Moment glaubte mein Verstand seine Macht begreifen zu können. Er zwang mich dazu über die Existenz von vielen Menschen zu entscheiden. Was hätte ich tun können? Ich musste eine Entscheidung treffen.
 
„Einverstanden“, sagte ich. „Es steht mir zu, etwas Gleichwertiges zu fordern!“ Lavok nickte mir auf überhebliche Art und Weise zu. Ich schien ihn zu amüsieren. Er ergötzte sich am Anblick eines Verzweifelten, eines Tieres welches verzweifelt um sein Leben kämpft. „Nenne mir den Einsatz den Du für angemessen hältst Colenius!“
 
Ich überlegte kurz „Ich möchte wieder so nach Hause zurückkehren wie ich war bevor ich zu Dir gelangt bin und nicht vom Malstrom der Zeit belangt werden.“ Lavok gackerte und nickte mir zu. In seinen Augen blitzte Triumph auf. „Deinen Regeln entsprechend darf ich nun das Spiel auswählen!“ Stille – der Blick des Gottes wurde irgendwie unruhig, es machte den Anschein als ob er alles abwägen würde was jemals war und sein wird. Seine Augen huschten kaum sichtbar hin und her.
 
„Das sind meine Regeln, wähle dein Spiel Colenius“ Ich wartete einen kurzen Moment und überlegte. Dann hob ich meinen Kopf und sagte: „Das Spiel das wir spielen nennt sich An welche Zahl denke ich.“ Lavok grinste triumphierend.
 
In meinem Kopf wurde es ruhig, ich hatte mir die Zahl „Dreizehn“ ausgesucht. Keine Ahnung warum. Langsam überkam mich ein seltsames Gefühl. Es war fast so, als ob etwas in meinen Gedanken war, ich war, so komisch das auch klingen mag, nicht länger allein in meinem Kopf. Etwas wühlte herum auf der Suche nach der Zahl, an die ich nach wie vor dachte. Eine güldene Dreizehn war vor meinem inneren Auge und so sehr ich mich auch dazu zwang, an etwas anderes zu denken, ich vermochte es nicht. Aus dem Augenwinkel sah ich den Stein in Lavoks Händen. Er pulsierte kaum merklich, doch breitete sich eine Wärme in meinem Körper aus, als ob mein Blut eine Verbindung dazu hätte.
 
Lavoks Augen huschten panisch über mich hinweg, ein gequälter Gesichtsausdruck, ein Seufzen „Wie machst Du das Mensch?“, „Wie mache ich was?“ Fragte ich aufrichtig zurück. Ich verstand nicht was vor sich ging. „An welche Zahl denke ich?“ Fragte ich vorsichtig jedoch fordernd.
 
Lavok blickte mich an und sagte unsicher „Eins“.
 
Ich atmete erleichtert aus. „Es war die Dreizehn, erhabener Lavok“. Nichts geschah. „Ich habe an die Dreizehn gedacht.“ Lavok blickte mich aus leeren Augen an. „Ja“ entgegnete er zögerlich, „das sehe ich jetzt auch!“
 
Von einem Moment auf den anderen war seine Mine wieder unergründlich, sein Gemüt fröhlich und verspielt. „Nun, ich halte mein Wort Colenius! Du hast gewonnen und ich will dich so nach Hause schicken wie Du warst, bevor Du zu mir geführt wurdest.“ Ich war erleichtert und lächelte. „Doch es wird noch dauern bis es soweit ist.“ Stille. Ein breites Grinsen erschien auf den Zügen des Kindes wie eine bösartige Fratze der Missgunst. „Du wolltest nicht vom Malstrom der Zeit belangt werden und das wirst Du auch nicht. Auf deinem Weg nach Hause sollst Du noch viele andere Wege gehen doch so sehr du es dir vielleicht auch wünschst, du sollst nie lange verweilen können. Du wirst dabei lernen und erfahren was es heißt rastlos zu sein. Ein Gast in jeder Zeit die war und sein wird bis du, wenn ich deiner überdrüssig und satt bin, wieder in deine Gegenwart zurückkehren darfst.“ Die Schatten um mich herum verdichteten sich und begannen mich mit jeden seiner Worte zu umschließen, sie schossen durch mich hindurch und krallten sich an mir fest, zerrten an meinem Fleisch und meinem Verstand. Ich erhob mich vom Boden wie von unsichtbaren Schnüren nach oben gezogen und glitt hinfort nach oben oder nach unten – ich vermochte es nicht zu sagen. Das Letzte, was ich sah, war der Stein in Lavoks Hand, der so hell aufloderte, dass meine Augen schmerzten. Der Gott der Träume ließ ihn überrascht fallen und schrie wütend auf. Für einen Moment verschwamm die Form des kleinen Jungen und ein gigantisches Wesen offenbarte sich das von solcher Macht war, dass es mir das Bewusstsein raubte.
 
„Wach auf Colenius“, schallte es glockenhell in meinen Ohren. Um mich herum war es dunkel. Ich öffnete die Augen und blinzelte in die Abendsonne hinein. Auf einem Mohnblumenfeld liegend fand ich mich wieder, diesmal stofflich und wahrnehmbar real. Real, da mir jeder einzelne Knochen im Laib wehtat und es so monoton-beständig in meinem Kopf hämmerte, als ob sich ein geistesgestörter Schmied darin niedergelassen hatte.
 
„Wach auf Colenius“ erklang die glockenhelle Stimme erneut. Ich lehnte meinen Kopf nach links und hielt die Hand vor der untergehenden Sonne, um nicht geblendet zu werden und da sah ich sie. „Arani!“ Entfuhr es mir. Sie lächelte amüsiert und fragte: „Wann bist du?“
 
Mein verdutzter Blick muss Bände gesprochen haben, denn sie sagte sofort „Ich verstehe, du bist gerade erst aus den Hallen des Lavok zurückgekehrt.“ Sie beugte sich über mich und strich mir sanft über die Wange. „Schlaf jetzt Colenius, deine Reise hat gerade erst begonnen!“

Ich hatte lange geschlafen, zumindest fühlte ich mich so. Die Schmerzen waren gänzlich verschwunden, als ob ich sie in einer weit zurückliegenden Zeit hinter mir gelassen hatte. Unter einer mächtigen Eiche sitzend erzählte ich mit Arani. Sie war verändert, zumindest nahm ich sie jetzt so wahr. Mein Blick, die Art, wie ich die Dinge betrachtete, betrachten konnte, hatte sich gewandelt. Ich konnte den Flügelschlag eines Vogels in der Geschwindigkeit einer Schnecke wahrnehmen, wenn ich mich konzentrierte oder einen Apfel wachsen und am Baum vor sich hinfaulen sehen. Arani erklärte mir sehr vieles in diesen ersten Tagen meines neuen Daseins. Lavok, der Gott der Träume und der Zeit, hatte mich gesegnet. Eine nette Umschreibung. Ich sagte immer verflucht, doch Arani bestand darauf, dieses Wort nicht zu benutzen. Die Zeit konnte mich nicht länger belangen. Mein „Ich“, meine Existenz mit allem was dazugehörte, war jenseits der starren Grenzen und Fesseln der Zeit. Der Malstrom konnte mich nicht erfassen. Damit einhergehend behauptete Arani, dass ich Fähigkeiten erkennen würde, die den Staubgeborenen, ein Begriff der Anderswelt für alle, die der Zeit untertan sind, verborgen bleiben. Mein Blick auf alles was ist, war nicht länger an einen Moment gebunden, sondern blickte gleichzeitig auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

An einem lauen Sommertag erzählte mir Arani von den großen Höfen der Feen. Es hatte ursprünglich vier gegeben. Den Hof des Frühlings, den des Sommers, den Herbst- und Winterhof. Die Höfe einten unter ihren Wappen beinahe alle Wesen der Anderswelt seit der ersten Schöpfung, aus der diese hervorgegangen waren. Regiert von vier Königinnen, die an Macht kaum zu überbieten waren, bildeten die Höfe eine Ordnung, die unzählige Zeitalter bestand haben sollte. Doch dann kam die zweite Schöpfung und alles veränderte sich. Die großen Kinder H’ekatees erschufen sich eigene Völker und statteten diese mit einer Macht aus, die der Feen gleichwertig war. Das war nicht das Problem, wie Arani beteuerte, es ging nur zu schnell. Die Macht konnte nicht reifen und das Verständnis um alles, was „war“ konnte nicht langsam erblühen, um Weisheit hervorzubringen. Es dauerte nicht lange und die Völker der Götterkinder lagen im Krieg miteinander. Einen Krieg, der über die Grenzen der Anderswelt hinaus getragen wurde. So traten in dieser düsteren Epoche die vier Königinnen der Höfe zu einem Konzil zusammen und beschlossen das Gesetz von Verluum. Es sollte eine Möglichkeit für Völker und Wesen darstellen, ein Existenzrecht zu bewahren, wenn ihnen durch einen überlegenen Gegner die Auslösung drohte. Das Volk, welches dieses Recht einforderte, musste sich in zahlreichen Prüfungen auf den verschiedensten Gebieten beweisen.

Arani erzählte mir von den Hiolyr. Einer stolzen und prächtigen Kultur von Sonnentänzern, die mit ihren Riten aus Versehen einen Zugang zur Anderswelt geöffnet hatten. Die Höfe der Feen waren gezwungen zu handeln, denn ein offener, unkontrollierter Zugang barg die Gefahr, dass die alten Feinde der Feen, die Gjin, dort einfallen würden. Nach langer Beratung entschieden die großen Königinnen, dass die Gefahr dieses Wissens zu groß war und die Hiolyr ausgelöscht werden müssten. Sie riefen die dunklen Schwestern herbei und den Nebelwolf, eine furchterregende Kreatur, so alt wie die Anderswelt selbst und machtvoll wie eine Urgewalt. Innerhalb eines Tages war das prächtige Reich der Hiolyr ausgelöscht, selbst die Erinnerung an sie.
 
Wie sich herausstellen sollte, hatten die Feen jedoch einen großen Fehler begangen. Die Hiolyr sollten einen Mann hervorbringen, der in der Lage gewesen wäre, die Feen von den Gjin zu befreien.
 
Gereift durch diese Erkenntnis und wissend, dass das Schicksal vordefiniert ist, wurde also das Gesetz von Verluum erlassen. Sollte ein Volk von der Auslöschung bedroht sein und das Recht von Verluum für sich beanspruchen, könnte es so seine Existenz retten und die Höfe dürften ihnen die Last der vergangenen Schuld nicht länger aufzwingen.
 
Um das Recht in Anspruch zu nehmen, muss zur Nachtzeit der Nebelwolf gerufen werden.
 
Vieles erzählte Arani mir noch von den Prüfungen der Feen, die komplex und vielseitig waren und auf jeden Fall fordernd für Körper, Geist und Verstand. Entsetzt war ich über die Tatsache, dass alle Prüfungen bestanden werden mussten, um zu überleben.
 
Mit der Zeit lernte ich meine Fähigkeiten nach und nach kennen. Ich konnte nicht nur meinen Blick durch die Zeit wandern lassen, sondern auch den Blick anderer übernehmen. Dies war jedoch schwierig und gefährlich zugleich. Ich drohte mich immer wieder im Leben anderer Menschen zu verlieren. Es war so schön und beständig. Arani blieb lange Zeit bei mir. Sie wurde mir eine Gefährtin und Freundin zugleich. Doch wie sie bereits gesagt hatte, war ihr Leben bereits geendet.
 
„Ich muss Dir etwas über Feen erzählen Colenius“. Sie lächelte mich an und strich mir über die Wange. Wir hatten uns am Wegrand gesetzt, um zu verschnaufen. „Eine Fee erwacht mit dem Wissen aller Dinge, die ihr in ihrem Leben passieren werden. Da Feen sehr lange leben, ist es eine Flut von Bildern und Erinnerungen und man kann nur einige davon erhaschen, wenn man sich konzentriert. Wenn eine Fee erlischt, kann sie ihre gesamte Macht in einen Stein binden, der so kraftvoll ist, dass Du es nicht begreifen kannst“. Ich nickte und merkte, wie sich meine Augen füllten. „An dem Tag“, fuhr sie fort „an dem Du mich gefunden hast, habe ich Dich endlich aus meinen Erinnerungen wiedererkannt. Ich habe die Essenz meiner Existenz in den Stein gebunden, den ich Dir übergeben hatte. Er hat Dich beschützt und bewacht.
 
Arani!“ Sagte ich lauter als ich es wollte. „Bitte nicht. Sprich nicht weiter!“
 
Sie lächelte und strich mir zärtlich über die Wange. „Ich bin schon lange tot Colenius, ein Zerrbild meiner Erinnerung, ein Echo meiner Pracht von einst.“ Ihre Kontur begann langsam zu verblassen.
 
„Bitte Arani, Du darfst mich nicht alleine lassen. Nicht so, nicht so plötzlich.“
 
Arani hob eine Augenbraue und stupste mich an. „Du hast noch so viel vor Dir Colenius und Du hast noch so vieles zu lernen. Du wirst fallen, sehr tief und das Gefühl haben niemals aufzuprallen. Der Gott der Träume ist grausam, doch seine Mutter ist gnädig. Der Tag wird kommen an dem Du wieder den Boden spüren wirst. Ein letztes Mal.
 
„Bitte“ flehte ich mit gebrochener Stimme, „versprich mir, dass Du so lange bei mir bleibst wie möglich Arani“.
 
„Dieses Versprechen, habe ich bereits erfüllt Colenius“.
 
Ein Wimpernschlag, nicht mehr nicht weniger. Ich blinzelte und sie war verschwunden. Der Stein in meiner Hand war weiß, mit splittern aus Licht. Eine Trauer ummantelte mein Herz die niemals vergehen sollte. Ich war allein.
 
Die Zeit verging, jedoch nicht für mich. Tage, Monate, Jahre, Dekaden … ein Wimpernschlag nicht mehr. Nach vielen Wanderungen kehrte ich zu meiner Hütte zurück. Ich nahm an, es war kurz vor meiner Begegnung mit Lavok. Ich sah den Feuerschein aus dem Fenster und trat näher, um einen Blick hineinzuwagen. Da saß ICH. Glotze gebannt auf das lodernde Feuer und begann allmählich zu schwanken. Ich erinnerte mich, es war, als ich beinahe eingeschlafen wäre. Ein Geräusch hatte mich damals geweckt. Ich blickte mich um. Keiner da. Ein Blick durch das Fenster, mein Kinn sank herab. Es musste doch jetzt geschehen. Nein, wenn ich nicht wach geblieben wäre, hätte ich niemals die wundervollen Reisen mit Arani gemacht, hätte niemals die Geschichten gehört, die sie zu erzählen wusste. Ich klopfte mit meiner Faust gegen die Tür!
 
Zum ersten Mal wurde mir klar, dass ich eingreifen konnte. Ich konnte Dinge ändern und beeinflussen. Ich war es selbst gewesen!
 
Viele Jahre später legte ich Aranis Stein in einen Sarg aus Stein unweit meiner alten Heimat. Sie sollte dort auf alle Zeit geschützt sein und niemals ihren Geschwistern in die Hände fallen. Denn es waren die Königinnen von Winter und Sommer, die Arani vor so langer Zeit getötet hatten.
 
Als mein Werk vollbracht war, bemerkte ich ein enormes Beben im Sein selbst. Es erschütterte mich und zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Mein Geist rannte durch die Zeitalter und als ich den Moment gefunden hatte, sah ich einen alten Mann vor einem schwarzen Bauwerk, welches von vier Säulen umgeben war. Er blickte sich um und ging auf mich zu.
 
Ich blieb ruhig stehen, ich war es mittlerweile gewohnt, übersehen zu werden. Es war nicht so, dass ich nicht stofflich anwesend war. Die Leute übersahen mich einfach. Der Mann war nun zehn Schritte von mir entfernt. Jeden Moment würde er sich umdrehen, weil er etwas vergessen hatte oder seinen Weg ändern und mich seitlich stehen lassen. Der Mann war noch zwei Schritte von mir entfernt. Er blieb stehen, blähte die Nüstern und schlug mir mit aller Kraft seine Faust ins Gesicht. Mein Kiefer knackte und meine Sicht wurde trüb. Ich spuckte etwas Blut und erinnerte mich auf einmal:
 
Agador von Siebenheim!“

Die hier hinterlegten Texte, Schriftstücke, Rezepte usw. sind alle bereits grafisch aufgearbeitet und stehen euch als Download zur Verfügung. Sie können frei verwendet, euren Schriftensammlungen hinzugefügt und natürlich auch geteilt werden. Wir freuen uns natürlich wenn Ihr dabei auf uns verweist. Vielen Dank!

Diese Geschichte wird gerade grafisch aufbereitet und steht euch bald zur Verfügung. Danke für die Geduld!
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